„Ich bin, weil wir sind.“ – Das ist nicht einfach nur ein klug klingender Kalenderspruch, sondern eine, wenn nicht die zentrale Haltung der botswanischen Botho-Philosophie, im südlichen Afrika auch bekannt als Ubuntu.
Als sich die dreizehnköpfige Projektgruppe des HG an ihrem ersten Morgen im fernen Botswana auf dem staubigen Parkplatz des Dorfes Kavimba im Schatten eines Geländewagens versammelte, hätten sie es sich nie träumen lassen, dass Botho sie an diesem Vormittag alle verändern würde.
„Ihr habt fünf Minuten, nicht länger. Männer tragen lange Hosen, Frauen lange Röcke, sonst wird es problematisch. Niemand darf einfach so reden. Macht mir alles nach. Wir werden knien, um Einlass bitten. Dazu wird geklatscht – einmal bis maximal fünfmal. Folgt meinem Rhythmus!“ Nach diesen Worten des streng anmutenden ehemaligen Offiziers und in Anbetracht der zitternden Hände des Guides Moscow war allen klar, dass dieses Gespräch mit „dem Chief“ in der örtlichen Versammlungshalle anders verlaufen würde als erwartet.
„Einen Chief des Dorfes treffen“ – da hatten naive Vorstellungen den siebzehn- und achtzehnjährigen Schülerinnen und Schülern samt ihren drei Begleitlehrkräften wohl einen Streich gespielt. Bereits am Flughafen wurden sie mit kreativen Darbietungen traditioneller Tänze konfrontiert, wodurch das eine oder andere Vorurteil über lokale Lebensweisen verfestigt wurde. Doch Chief Munitenge Liswani Maiba Sinvula III, gekrönt 2021, wird westlich gekleidet sein und wäre zur Unterhaltung von Touristen auch keine fünf Minuten zu sprechen gewesen. Was er und sein Stab bieten werden, ist kein Gespräch, sondern eine Audienz. Gefolgt wird einem Protokoll, das zwar strenge Hierarchien und Abläufe einfordert, aber auch Augenhöhe, Partizipation und ausführliche Antworten für die zahlreichen Fragen der Jugendlichen zulässt.
Versammelt in der Dorfhalle wird mit den Gästen quasi ein Kgotla, eine Versammlung, abgehalten. Jede und jeder kommt auf Augenhöhe zu Wort. Niemand wird unterbrochen. Je wichtiger das Thema, desto länger dauert das Meeting. Chief Munitenge klärt hier normalerweise Streitigkeiten oder führt die Geschicke der umliegenden Dörfer in Kooperation mit der Regierung. Er ist für alle Menschen da, dem Gemeinwohl verpflichtet – heute ist er da, weil wir da sind. Botho.
Der HG-Gruppe geht es um Themen, die sie im Rahmen ihres Projekts im Gepäck haben: Wie funktioniert das Zusammenleben von Menschen und Wildtieren? Gibt es einen Human-Wildlife-Conflict? Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf das Leben? Was bedeutet den Menschen Nachhaltigkeit – früher und heute? Die ausführlichen Antworten eröffnen den Gästen neue Perspektiven. Berichtet wird von Totems, die einen traditionellen Artenschutz darstellen, aber auch von den zahlreichen Maßnahmen der aktuellen Regierung, die Einnahmen über Jagdlizenzen vergibt, um Ungleichgewichte im Bestand der Wildtiere auszugleichen und ständig überlegt, wie sie Menschen für wachsende Nationalparkflächen begeistern könnte. Ein Grundtenor schwingt stets mit, obwohl fast jeder aus Kavimba bereits Angehörige durch Wildtiere verloren hat: Die Tiere und die Natur waren zuerst da. Nun ist es an den Menschen, die Herausforderungen zu akzeptieren und einen für alle guten Ausweg zu finden. Der Einzelne ordnet sich dem Wir unter. Dieses Wir ist die Kultur, im dortigen Sinne alles, was Menschen ihren Nachkommen und auch der Natur hinterlassen. Botho.
Botho verträgt sich nicht so ohne weiteres mit den Werten unserer auf Individualität und zur Selbstoptimierung neigenden Gesellschaft. „Ich bin, weil wir sind.“ – Unsereins mag sich darunter das Vertrauen innerhalb der engeren Familie vorstellen oder auch den Zusammenhalt in einer Mannschaft. Die Audienz bei Chief Munitenge ging jedoch weiter und hat dabei alle Teilnehmenden zutiefst beeindruckt. Sie wird in Erinnerung bleiben. Die Erfahrung war beidseitig. Woher können wir das wissen? Zeit ist hier in Botswana nicht Geld, sondern Beziehung. Das Gespräch dauerte nicht fünf Minuten, sondern zwei Stunden. Botho.
Botswana, aktuell medial bekannt als das Land, das Deutschland 20.000 Elefanten schenken wollte. Vielen gilt Botswana als Traumziel im südlichen Afrika, das seine Naturressourcen in den unendlichen Weiten der Kalahari oder die Vielfalt des Okavango Deltas seit Jahrzehnten durch hohe Preise und Luxusreisen schützt. Auf einer Fläche so groß wie Frankreich leben gerade einmal 2,6 Millionen Menschen. 40 Prozent der Landesfläche stehen auf verschiedene Weisen unter Schutz.
Noch am Abend kreisen die Gedanken an die Ereignisse in Kavimba durch die Köpfe der Jugendlichen. Diese Reise wird kein Kinderspiel werden. Dem Gespräch mit Chief Munitenge werden weitere Treffen mit politischen Akteuren folgen. Danach geht es mit Zelten in die Wildnis – ohne schützende Zäune, Strom, Wasser, Elektrizität, Handyempfang. Hinter jedem Busch könnte ein Büffel lauern. Die Bewegungsfreiheit wird enorm eingeschränkt sein. Der Toilettengang wird zum Abenteuer. Löwen werden nachts das Camp passieren und ein seltener Wildhund wird ein Impala mitten durch das Camp jagen. Die teuren Lodges sind tabu. Dafür werden der unglaubliche Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre und der einzigartige Geruch des Lagerfeuers, geschürt mit Mopaneholz, für immer in Erinnerung bleiben.
Über allem schwebt stets die drängende Frage, wie es überhaupt zu verantworten sei, mit einer Schulgruppe nach Botswana zu fliegen. Gemeint sind dabei nicht die Gefahren durch wilde Tiere oder Tropenkrankheiten. Es geht um die Frage, wie der CO2-Fußabdruck so einer Reise angesichts des Klimawandels überhaupt gerechtfertigt oder nachhaltig gestaltet werden kann. Den teilnehmenden Jugendlichen ist gemeinsam, dass sie sich dieser Frage bewusst stellen und konfrontieren wollen. Einige von ihnen sind noch nie mit dem Flugzeug geflogen, engagieren sich kommunalpolitisch, im Naturschutz oder im Rahmen der Schulentwicklung „HG-ZukunftsWELTstatt“. Sie wollen partizipieren, gestalten, nicht einfach verbieten. Es beschäftigt sie der Gedanke, warum sich Schülerinnen und Schüler bei Studienfahrten und Austauschprogrammen einschränken, während sich im Privaten bei vielen wenig ändert. Zu wertvoll seien die ganzheitlichen Lerneffekte, die Erfahrungen, die Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung und der Mehrwert für die Völkerverständigung. Gemessen an den Emissionen des Fluges in das südliche Afrika wäre die Teilnahme jedoch einem Tabu gleichzusetzen. Dieses Dilemma auszuhalten und nach Antworten für sich und andere zu suchen, ganz ohne Schönmalerei, das ist das Projektziel.
Gearbeitet wird an dem Projekt schon länger. Nachdem erste Schulen schon 2019 Flugreisen eingeschränkt und sogar verboten hatten, sollte auch am HG ein Weg in Richtung nachhaltige Klassenfahrten gefunden werden. Den ersten Impuls bekam das Projekt von der Initiative #VoithCares. Zahlreiche Köpfe denken seither mit, doch tragfähige Ergebnisse stellten sich noch nicht ein. Hinzu kam, dass weitere Unterstützungen schwer zu finden waren. Das gelebte Dilemma des Projektteams schreckte viele Akteure ab: kein Schüleraustausch, keine Entwicklungspolitik, Klimaschutz und gleichzeitig fliegen – das will nirgendwo so richtig passen. Die authentischen Anliegen der Jugendlichen blieben damit leider auf der Strecke.
Lichtblicke waren Menschen mit weltbürgerlichem Hintergrund, teils mit Erfahrungen aus Nationalparks und den dortigen Nutzungskonflikten. Sie nahmen die Gruppe an die Hand und begeisterten sie für die Weiten des Donaumooses, denn Moore sind hervorragende CO2-Speicher (Mooseum in Bächingen), oder sie erörterten das Potenzial einer Mini-Wildnis auf dem heimischen Schulhof. Biodiversität sei der Schlüssel zu Klimaschutz und Klimaanpassung, beides sei untrennbar miteinander verbunden. Jetzt müsse gemeinsam mehr für Artenvielfalt getan werden. Mit eigenen Händen anpacken und ganz besonders: weitere Menschen für die Sache gewinnen und begeistern – dieses WIR wird zum verbindenden Element zwischen Deutschland und Botswana. So gibt es in der Chobe-Region einen kommunalen Fonds, den Bürgerinnen und Bürger abrufen können, wenn sie eine Idee haben, wie sie selbst besser mit Wildtieren und dem Ausbau der Nationalparks leben können. Das Gegenüber, die Natur, die Wildnis kennenlernen, sich berühren lassen und gute Beziehungen zueinander aufzubauen, scheint der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Botho.
Das hört sich einfach an? Dann erklären Sie das den beiden Heidenheimer Ehrenamtlichen, die sich bei einem Vereinsmeeting darüber streiten, welche Pflanzen nun als Unkraut gelten und welche nicht. Beide hatten im Vorfeld bereits erklärt, dass Jugendliche ohnehin kein echtes Interesse hätten, sich die Hände schmutzig zu machen. Auch wenn nachvollziehbar schlechte Erfahrungen hinter diesen Einschätzungen stecken sollten, sind die Diskussionen über Umwelt- und Klimaschutz hierzulande emotional oft viel zu aufgeladen. Interesse zeigen, Begeisterung wecken und Beziehung aufbauen sieht anders aus.
Zurück nach Botswana. Mit vereinten Kräften ummanteln die Schülerinnen und Schüler in der Region Khwai Bäume mit Maschendrahtzaun, mit dem Ziel, diese vor Verletzungen durch die wachsende Elefantenpopulation zu schützen. Für das Projektteam endlich die erste, sehnlichst erwartete Gelegenheit zu spüren, was es heißt, einen Handabdruck zu hinterlassen, mit Hand und Herz anzupacken und daraufhin die Wirkung der Aktion zu reflektieren. Mit dabei ist das Ehepaar Carina und Heiko, Elternteile am HG. Sie gehören ebenfalls zu den Lichtblicken. Sie sind die treibenden Kräfte hinter dem Engagement in Botswana und selbstständig im botswanischen Tourismus tätig. Beide sind sehr gut vernetzt und haben die spannende Idee entwickelt, den Mensch-Klima-Konflikt, an dem bereits gearbeitet wurde, mit dem Human-Wildlife-Conflict in Botswana zu verknüpfen – nicht nur theoretisch im geschützten Klassenzimmer, sondern entgrenzt in der realen Welt. Echte Erfahrungen sollen echte Erkenntnisse und Veränderungen hervorbringen.
Schon nach wenigen Tagen fühlen sich die Jugendlichen in der Wildnis nicht mehr fremd, sondern vertraut und sicher. In der Natur scheint sich der Human-Wildlife-Conflict fast magisch aufzulösen – die Schulgruppe ist zu Gast und hinterlässt auf den Zeltplätzen keine Spuren außer den Fußabdrücken im Sand. Das Team wächst mit den Guides zu einer kleinen Familie zusammen und nichts fühlt sich mehr wie Schule an. Zelte auf- und abbauen wird zur Routine. Geplatzte Reifen sind kein Grund zur Panik mehr. Fast unheimlich erscheint gegen Ende des Abenteuers hingegen der mit Lineal gezogene Übergang von Sandpiste zu Teerstraße, der einhergeht mit Sendemasten, Stromleitungen und Müll. Eines wird dabei deutlich: Was die Menschen hier umtreibt, ist existenziell – es geht nicht um Meinungen, sondern um das Überleben durch Tourismus, reiche Trophäenjäger aus dem Ausland oder den Schutz der Familie vor Wildtieren in einem Land fast ohne Zäune. Die Konflikte in Deutschland, wie baumfällende Biber, einzelne Wölfe, die ärgerliche Distel, die sich unverschämt durch den Asphalt bohrt, oder die zu groß geratene Hecke des Nachbarn dürften der Projektgruppe künftig wohl nur noch ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Vielleicht wird es zunächst immer noch keine Lösungen für das Dilemma der Schülerinnen und Schüler geben. Vielleicht werden ihnen die Erfahrungen zum Auftrag für ihre berufliche Zukunft und ihr klimapolitisches Engagement. Doch die Rückkehr aus Botswana war sicherlich erst der Anfang einer Reise. Die bereichernden Erfahrungen in der fremden Natur und Kultur gingen von den Händen und Köpfen direkt in die Herzen. Neue, wertvolle Beziehungen sind entstanden und die Erkenntnis, dass es genau solche Bindungen zwischen Mensch und Natur sind, die für das spätere Engagement zählen. Das WIR der Schulgemeinschaft soll dafür begeistert werden, mindestens auf dem Schulgelände auch mit anzupacken. Hinterlassen – oder besser mitgenommen – wurde schlussendlich nicht nur ein CO2-Fußabdruck, sondern die echte Chance auf viele, ganz besondere Botho-Handabdrücke.
Holger Nagel